Zur Biologie der Libellen

Gekürztes Kapitel aus Sternberg & Buchwald (1999): Die Libellen Baden-Württembergs, Band 1, S. 93-111. (© Ulmer Verlag, Stuttgart)

1. Embryonal- und Larvalentwicklung

Das schützende Ei:

Innerhalb des Entwicklungszyklus der Libellen stellen die Eier gegenüber verschiedenen Umwelteinflüssen das widerstandfähigste Stadium dar. Im Vergleich zu den Larven sind sie recht unempfindlich z.B. gegenüber Temperatureinflüssen (die Eier mancher Arten können monatelang bei -20 °C im Eis einfrieren). Sie sind auch gegen mechanische Einflüsse recht gut geschützt: Bei „endophytisch“ ablegenden Arten sind sie in schützendem Pflanzengewebe umgeben; bei „exophytisch“ ablegenden Arten liegen sie geborgen im Sediment. Die Eihülle („Chorion“), ist bei vielen Libellenarten recht hart und stabil. Außerdem schützt die klebrige Gallerthülle, die die Eier vieler Segellibellen (Libellulidae) und Falkenlibellen (Cordulidae) umgibt, bis zu einem bestimmten Grad vor mechanischer Belastung. Gleichzeitig bildet die Gallerthülle einen Schutz vor Räubern und v.a. Eiparasitoiden. Wegen ihrer hygroskopischen (wasserbindenden) Eigenschaften schützt sie die Eier zudem in gewissem Umfang auch vor Austrocknung, sollten diese einmal z.B. durch Wasserspiegelschwankungen aufs Trockene gelangen.

Embryonalentwicklung:

Als Insekten mit sog. unvollkommener Verwandlung wachsen die Larven von Häutung zu Häutung langsam heran und verwandeln sich ohne Puppenstadium zur Imago. Bei manchen Libellenarten ist die Embryonalentwicklung bereits nach 2 – 6 Wochen nach der Eiablage abgeschlossen, so dass die Larven noch im gleichen Jahr aus dem Ei schlüpfen, oder die Eier überwintern in einem frühen oder späten Entwicklungsstadium und entlassen erst im nächsten Frühjahr die Larven. Im Winter wird die Entwicklung i.d.R. von einer Entwicklungsruhe unterbrochen, die allgemein als „Dormanz“ bezeichnet wird. Die Länge der Embryonalentwicklungszeit ist artspezifisch, unterliegt jedoch in hohem Maße dem Einfluss der Temperatur.

Larvalentwicklung:

Schlüpfen die Larven aus dem Ei, steckt das eigentliche Lärvchen zunächst noch in einer dünnen, durchsichtigen Haut. Dieses Stadium wird als Vorlarve oder „Prolarve“ bezeichnet. Die Larvalentwicklung dauert bei einigen Arten nur wenige Wochen (z.B. viele Teichjungfern – Lestidae). Die Larven vieler Klein- und Großlibellenarten benötigen ein Jahr, andere Arten zwei oder noch mehr Jahre zur vollständigen Entwicklung. Die Dauer der Larvalentwicklung wird von einer Reihe ökologischer Faktoren stark beeinflusst, so z.B. vom Mikroklima und dem Nahrungsangebot, unterliegt aber auch endogenen Einflüssen. Bei Anwesenheit vieler Prädatoren kann sich die Entwicklungsdauer verzögern, weil sich die Larven verstecken müssen und trotz hohem Beuteangebot weniger Beute fangen können. Andererseits kann sich bei drohender Gewässeraustrocknung, z.B. bei der Glänzenden Binsenjungfer (Lestes dryas), die Entwicklung beschleunigen. Die Anzahl der Larvalstadien ist sehr unterschiedlich. Sie variiert je nach Art, individuellen und genetisch festgelegten Eigenschaften zwischen etwa (7) 10 und 17.

2. Biologie der Larve

Die Larven unserer Libellen leben im Wasser. Trocknet das Gewässer aus, können die Larven des Plattbauchs (Libellula depressa) und manch anderer Arten aber bis zu mehreren Wochen im Trockenen überleben. Entweder graben sie sich ein, verstecken sich unter Steinen sowie zwischen oder unter feuchter Vegetation. Die Larven mancher Arten verlassen bei drohender Austrocknung ihr angestammtes Gewässer und suchen sich ein anderes in der Nachbarschaft, das noch Wasser enthält. Dieses Verhalten ist als Anpassung an das Leben in nicht ständig Wasser führenden („ephemeren“) Flachgewässern oder solchen mit stark schwankendem Wasserstand („astatische Gewässer“) zu sehen. Larven von Arten, die an ausdauernden („perennierenden“) Gewässern leben, zeigen dieses Verhalten normalerweise nicht. Die Larven einiger Libellenarten leben überwiegend in der Bodenzone eines Gewässers. Larven der Fluss- und Quelljungfern (Gomphidae, Cordulegastridae) leben überwiegend im Sediment, solche der Gattungen Libellula (Vierfleck u.a.) und Orthetrum (Blaupfeile) meistens auf dem Gewässergrund. Die Jungstadien einiger Arten leben sogar bis 2 m tief im Grundwasser des wassergefüllten Lückensystems von Schottern und Kiesen von Flussläufen.

Die Larven der Kleinlibellen (Zygoptera), Edellibellen (Aeshnidae), Heidelibellen (Sympetrum spp.) und Moosjungfern (Leucorrhinia spp.) halten sich auf oder zwischen der Ufer- oder Wasservegetation auf.

Zum Ortswechsel benutzen die Libellenlarven normalerweise ihre Beine. Über größere Strecken (bis mehrere Meter) können sie mit Hilfe der Rückstoßtechnik wie ein „Torpedo“ äußerst schnell durch das Wasser „flitzen“. Diese Technik, bei der Wasser abwechselnd in die Atemkammer des Enddarms eingesaugt und mit hohem Druck wieder ausgepresst wird, wird auch häufig bei der Flucht eingesetzt. Bei vielen Arten, wie z.B. der Quelljungfern (Cordulegaster) und Flussjungfern (Gomphiden), sind die Larven überwiegend Lauerjäger, suchen aber aktiv nach Beute, wenn sie hungrig sind. Aeshniden- und Kleinlibellenlarven durchstreifen mit langsamen Schritten das Gewässer, gehen aber zur Ansitzjagd über, wenn sie starkem Fraßdruck z.B. durch Fische ausgesetzt sind.

Libellenlarven gelten als sehr gefräßig und als unspezifische Räuber, die nahezu alles fressen, was sie überwältigen können. Das trifft nur dann zu, wenn die Larven großen Hunger haben. Dann vergreifen sie sich auch an Beutetieren, die sogar größer sein können als sie selbst. Normalerweise bevorzugen Libellenlarven jedoch kleinere Beute. Diese besteht überwiegend aus Kleinkrebsen (Wasserflöhe – Cladocera, Hüpferflingen – Copepoda, in Fließgewässern auch Bachflohkrebse – Amphipoda: Gammaridae), allen möglichen Insektenlarven und Würmern. Larven der Edellibellen (Aeshniden) fressen teilweise auch Wasserschnecken. Libellenlarven nehmen ihre Beutetiere visuell und/oder taktil wahr und erkennen sie nur, wenn sie sich bewegt. Zum Beutefang wird die „Fangmaske“ eingesetzt. Sie wird aus der umgebildeten Unterlippe („Labium“) gebildet und kann blitzartig vorgeschnellt werden. Die Beute wird mit zwei „Greifern“ gepackt und dann zum Mund geführt. Trotz ihrer Gefräßigkeit können Großlibellenlarven über drei Monate lang ohne Schaden hungern. Ältere Larven mancher Arten überstehen bei ausreichender Adaptationszeit mehrwöchiges Einfrieren in Eis.

3. Verwandlung

Einige Tage vor der Verwandlung („Metamorphose“) zum Vollinsekt (Imago) stellen die Larven das Fressen ein. Durch tiefgreifende Umwandlungsprozesse in der Larve bildet sich unter der Larvenhaut die „geschrumpfte Ausgabe“ des Vollinsekts der Libelle heran. Für den Häutungsprozess entsteigen die Larven dem Wasser und suchen sich das nächstmögliche Substrat (Stein, Erdklumpen, Vegetation) zum Hochklettern. Hat die Larve eine geeignete Stelle und ihre endgültige Position gefunden, pumpt die Larve Blut („Hämolymphe“) in Thorax und Kopf. Gleichzeitig schluckt sie Luft. Dadurch reisst die Larvenhaut entlang der Rückennaht an Thorax und Kopf auf, und die junge Libelle arbeitet sich aus der Larvenhaut heraus. Noch während sich Kopf und Thorax aus der Haut befreien, vergrößern sie sich durch den Hämolymphdruck beträchtlich und werden in ihre spätere Form gebracht. Nachdem sich die Libelle bis auf das Hinterleibsende aus der Haut befreit hat, tritt eine Ruhephase ein, in der sich die Beine etwas aushärten. Dann zieht die Libelle den Rest des Körpers heraus. Anschließend wird Hämolymphe in die Flügeladern gepresst, die sich durch den Druck strecken und die Flügel entfalten. Noch bevor die Flügel vollständig ausgehärtet („sklerotisiert“) sind (das ist erst 20 – 30 Stunden später geschehen), startet die Libelle zu ihrem ersten kurzen Flug („Jungfernflug“). Am Ufer ist die alte Larvenhaut („Exuvie“) zurückgeblieben. Während des Schlüpfens sind die Libellen völlig hilflos Feinden, aber auch der Witterung ausgesetzt.

4. Biologie der Imagines

Flug:

Bei den Libellen, insbesondere bei den Großlibellen, hat der kraftvolle, äußerst wendige Flug ein Höchstmaß an Perfektion erreicht. Großlibellen können in nur 3/10 s von 0 auf 15 km/h beschleunigen und eine Spitzengeschwindigkeit von nahezu 40 km/h erreichen, aus vollem Flug abrupt abbremsen und rüttelnd in der Luft stehen bleiben. Sie steigen aus waagrechtem Flug unvermittelt senkrecht aufwärts, ohne dabei wesentlich langsamer zu werden. Sie segeln lange Strecken und können sogar – einzigartig unter Insekten – rückwärts fliegen.

Wegen ihrer „Knitterfaltenstruktur“ knicken die Flügel trotz ihrer Größe auch unter hohen Belastungen, wie auch bei schnellen Wendemanövern, nicht ab und bleiben stabil und biegefest. Dazu sind sie extrem leicht: die vier Flügel einer Großlibelle wiegen zusammen nur 1/100 g. Da die Flügel gewöhnlich nur etwa bis 30 mal/s (beim Drohflug der Calopteryx -Männchen (Prachtlibellen) 40 – 70 mal/s) auf und ab bewegt werden, ist der Libellenflug nahezu lautlos.

Bei Großlibellen werden die vier voneinander unabhängig beweglichen Flügel durch mächtige Flugmuskeln direkt abwärts gezogen und wieder gehoben. Der Aufschlag wird indirekt durch elastische Verformungen des Thorax unterstützt. Die Flügel der Kleinlibellen sind sehr viel beweglicher mit dem Körper verbunden. Durch die große Verstellmöglichkeit ihrer Flügel sind Kleinlibellen äußerst manövrierfähig, was im Halmgewirr etwa einer Wiese sehr vorteilhaft ist. Im Verhältnis zum Gesamtvolumen besitzen Kleinlibellen weniger als halb so große Flugmuskeln wie die Großlibellen, was bei trübem Wetter von Vorteil ist, da sie sich schneller aufwärmen und beim Aufwärmen weniger Energie benötigen. Kleinlibellen sieht man daher auch häufig bei bedecktem Himmel fliegen.

Der ökonomische Flugstil ermöglicht besonders den großen Libellenarten einen äußerst ausdauernden Flug. Unterstützt durch Luftströmungen können Großlibellen innerhalb weniger Tage bis 1000 km zurücklegen (Hemianax ephippiger – Schabrackenlibelle).

Nahrungserwerb und Beutespektrum der Imagines:

Libellen nehmen ihre Beute ausschließlich optisch wahr. Die großen Komplexaugen vermitteln der Libelle ein Bild ihrer Umgebung derart, wie wir es als gerastertes Zeitungsphoto kennen. Libellen können zwar weniger scharf sehen als Menschen, dennoch können sie noch Beute von 1 mm Größe aus einiger Entfernung wahrnehmen; zudem ist das zeitliche Auflösevermögen der Augen wesentlich besser als beim Menschen: Libellen können noch 175 Einzelbilder/s, Menschen nur 20 Bilder/s getrennt wahrnehmen, so dass Libellen Bewegungen um ein Vielfaches besser erkennen als Menschen. Die Beute wird mit den Beinen ergriffen. Libellen ernähren sich überwiegend von Kleinst- und Kleininsekten und sind durch den Verzehr unzähliger Lästlinge des Menschen (Stechmücken, Kriebelmücken, Blattläuse u.a.) sehr nützlich.